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Ein Kolloquium über Chancen und
Hindernisse der Integration hochqualifizierter älterer und alter
russischsprachiger jüdischer Kontingentflüchtlinge in Deutschland
Auf dem Kolloquium wird ein bislang vernachlässigter
Bereich der Einwanderungs- und Integrationsrealität der benannten
Zielgruppe thematisiert. Vorliegende Daten weisen darauf, dass die in
sich natürlich differenzierte Gruppe aus hochqualifizierten, bis zur
Einwanderung beruflich Tätigen handelt. Es geht vorrangig um Großstädter,
die eine Hochschul- oder Universitätsausbildung absolviert und in künstlerischen,
akademischen, technischen, verwaltungsorganisatorischen und auch
leitenden Positionen in der Sowjetunion tätig waren.
Da in der Regel mehrere Generationen aus gleichen
Familien einreisen, bleiben zwar die familialen Strukturen nach der Übersiedlung
erhalten, doch die hohe berufliche Qualifikation der Ältesten in der
Familie trägt nicht automatisch dazu bei, die Anforderungen in der
neuen Lebenswelt zu meistern. Mangelnde Sprache verbindet sich mit der
Unwissenheit über Landes- kunde und Regionaleigenheiten" sowie
des Rechtsverständnisses. Zuwanderer über 55 Jahre können faktisch
keine Integration in das Berufsleben erwarten, die bisherige
Qualifikation und Erfahrung scheint entwertet, die Chance, sich über
Berufsarbeit sprachlich und kulturell einzu- gewöhnen entfällt.
Arbeitsmarktorientierte Umschulungen führen kaum zu dauerhaften
Arbeitsverhältnissen, zudem werden sowjetische Hochschul- und Universitätsabschlüsse
nicht zwingend in allen Bundesländern als gleichwertig anerkannt.
Da das Thema Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht das
Bild der Einwanderungswilligen prägt, wird Dauerarbeitslosigkeit, die
an Sozialhilfe und an mangelnde Deutsch- und Regionalkenntnisse
gekoppelt ist, desozialisiert und läßt zum Beispiel anfängliche
Sprachbemühungen schnell vergehen. Ersatzweise wächst das Bedürfnis
nach russischsprachigen sozio-kulturellen Einrichtungen. Die vorhandenen
individuellen Fähigkeiten werden nicht oder nur unzureichend gefördert
und abgefordert, diese Bedürfnisse durch eigenes Handeln umzusetzen
entfällt.
Hierfür wären Kenntnisse der deutschen Sprache, der
Landeskunde und der Verwaltungs- systems erforderlich. Der Kreislauf ist
nicht durch die traditionellen Jüdischen Religionsgemeinschaften zu
durchbrechen, deren Aufgabe zwar die umfassende Betreuung ihrer
Mitglieder vorsieht, jedoch nicht die breite Organisation weltlicher
kultureller Aktivitäten auf Russisch.
Die Zahl der im Flüchtlingskontingent eingereisen
Personen liegt inzwischen bei mindestens 150 000. Die Zahl der
Neuaufnahmen in die Jüpdischen Gemeinden betrug im gleichen zeitraum
etwa 60 000 Personen. Ein großer Teil der Zuwanderer ist demnach nicht
Mitglied der Religionsgemeinschaften, da nicht in jedem Fall die jüdische
Definition erfüllt wird. Die Einwanderung nach Deutschland folgt nicht
dem Religionsgesetz, so dass Söhne und Töchter jüdischer Väter und
ihre nichtjüdischen Partner und Kinder, selbst wenn sie es wollten,
nicht Mitglied einer Jüdischen Gemeinde in Deutschland werden - und
damit auch nicht deren Unterstützung nutzen können.
Die Probleme liegen auf der Hand: Die jungen", älteren und
alten Alten, also die Zielgruppe ab etwa 55 Jahre, stellen dank ihrer
Berufsqualifikation einen Spezialfall der Einwanderung dar. In der Regel
verfügen sie anders als andere klassische Einwanderungsgruppen über
einen Hochschul- oder Universitätsabschluß, meist über eine diesen
entsprechende sowjetische Berufserfahrung vor allem im staatlichen,
politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen System als leitende
Mitarbeiter bis hin zu Richtern und Staatsanwälten, als leitende oder
wissenschaftlich tätige Akademie- und Universitätsangestellte,
leitende Ingenieure, Ärzte, Journalisten, Kunst- und Kulturschaffende,
Pädagogen, Techniker, Militärexperten usw.
Bei der Übersiedlung nach Deutschland erfolgt in der
Regel keine Nutzung des bisherigen Fach- und Erfahrungswissens, es
findet im Gegenteil eine Entwertung statt, die auch wenn lieber verdrängt,
dennoch in den Folgen unübersehbar ist. Sozialhilfe wird zur einzigen
Einnahmequelle, damit verbunden ist eine Reihe von als erniedrigend und
einschränkend, auch als irritierend wahrgenommenen Regelungen
(Begrenzung der Freizügigkeit, der Nebentätigkeiten und der
umfassenden Mitwirkung in ehrenamtlichen Gremien).
Dies sind keine Voraussetzungen für eine lebbare
Integration, sondern münden in Gruppen-Isolation, Unsicherheit und
verstärken die Unkenntnis über die widersprüchlichen und veränderlichen
Realitäten in Deutschland.
In den russischsprachigen Familienverbänden genießt
in der Regel die ältere Generation traditionell Respekt. Mit der Übersiedlung
nach Deutschland entstehen in diesem Zusammenhang Konflikte. Die veränderte
Rolle der einzelnen Generationen erfordert Veränderungen auch in den
Beziehungen. Die grosselterliche oder auch elterliche Macht, die auf der
Verfügung knapper Ressourcen in der Sowjetunion basierte (gemeinsamer
Wohnraum, berufliche und andere Kontakte, Erfahrungen in der Bewältigung
des Alltags, auch finanzielle Abhängigkeiten) verliert an Gewicht. Für
diese kulturellen Brüche gibt es jedoch in Deutschland, wo die
Situation eine andere ist, keine Öffentlichkeit und damit auch kaum
kompetente Beratung, die allen Generationen helfen, die neuen objektiven
Bedingungen als Ursachen für subjektive Schwierigkeiten zu erkennen.
Ein weiterer Gesichtspunkt betrifft die Frage der
transnationalen Migration, auch wenn diese für die hier zur Diskussion
stehende Altersgruppe nicht zwingend relevant ist. Dennoch ist
nachzufragen, wie die Integration durch das physische oder psychische
Pendeln zwischen Herkunftsort und neuer Heimat beeinflusst wird.
Auf der deutschen Seite werden diese Themen in der Regel nicht
wahrgenommen. Da kein Emigrationsgewinn aus der Einwanderung verbucht
wird, bleiben wechselseitig Stereotype erhalten. Diese stabilisieren
sich infolge mehrheitlich verzerrender oder mindestens einseitiger
medialer Berichterstattung.
Auf dem Kolloquium soll auf die Komplexität der Einwanderung
russischsprachiger jüdischer Kontingentflüchtlinge im höheren
Lebensalter vorgestellt und mit Experten und betroffenen Aktivisten
diskutiert werden. Es geht darum, Akteure vernetzen zu helfen und durch
Veröffentlichung der Ergebnisse die empirische Basis für nachfolgend
notwendige Forschungen zu unterstützen.
Samstag 24. März:
Eröffnung: Igor Chalmiev
Rabbiner Weinman (Jerusalem): »Die Halacha und das Alter«
Dr. Irene Runge: »Von den Klippen in den Kulturen des Alterns«
Sonntag, 25. März 10 - 19 Uhr
Dr. H.-J. v. Kondratowitsch (Deutsches Zentrum für Altersforschung): »Soziogerontologische
Fragen und Antworten zum Thema Einwanderung«
Prof. Dr. Elena Burlina (Düsseldorf): »Exil, Emigration und Neubeginn
im Alter«
Dr. Dorothea Grieger (Referentin bei der Beauftragten der
Bundesregierung für Ausländerfragen): »Älterwerden in Deutschland.
Erfahrungen mit einem Beratungsmodell für ältere Migranten in
Deutschland«
Diskussion, Arbeitskreise, mediterranes Lunchbuffet, Podiumsdebatte und
geselliges Beisammensein
Anmeldung im JKV bis 15. März
Ort des Kolloqiums:
Jüdischer Kulturverein Berlin e.V
Oranienburger Strasse 26, 10115 Berlin-Mitte
Tel: 030 / 2 82 66 69 ; Fax: 030 / 28 59 80 53
email: JKV.Berlin@t-online.de
Teilnehmer:
maximal 50 Personen. Gezielt werden Experten und Menschen mit Erfahrung
auf diesem Gebiet eingeladen (Sozialpolitiker, Alternsforscher,
Migrationsforscher, VdN-Betreuer und aktive Einwanderer im höheren
Alter)
Termin:
Sonnabend, 24. / Sonntag 25. März 2001
Kosten:
20 DM/10 DM
jüdisches
Leben in Berlin |