Rückblick:
Gedenktagtorschlusspanik
Von Irene Runge, Jüdische Korrespondenz Juni 2005
Angesichts einer spürbaren Gedenktagtorschlusspanik
quoll das 60. Jahr schon in den ersten Monaten ereignisgesättigt über den
eigenen Tellerrand hinaus. Die gleichzeitig stattfindenden jüdischen Feste
und Erinnerungen liefen indessen eher ohne öffentliche Wahrnehmung ab.
Am Jom HaSchoa beispielsweise lud das Königreich
Norwegen mit Abraham Geiger Kolleg und Deutsche Oper Berlin in dessen
Foyer ein. Vorgestellt hat man ein Kaleidoskop jüdischer Geschichte in
Liedern und Reden. Norwegens Ministerin für Kultur und Religion sprach
über die winzige jüdische Minderheit im 1942 von Deutschland überfallenen
Land und das dortige Holocaustgedenken.
Ruth Cohen, Präsidentin der Weltunion für progressives
Judentum, die Deutschland Anfang Mai mit hochrangiger Delegation bereiste,
nannte ihr Kommen schmerzhaft, doch der Aufenthalt sei ihr dank offener
Gespräche mit Politikern wie Otto Schily, Joschka Fischer und Peter Struck
leichter gefallen. Sie habe jetzt mehr Hoffnung für das Judentum in
Deutschland, wo Leo Baeck, ihr Vorgänger im Amt, vor seiner Deportation
nach Theresienstadt so segensreich wirkte. Nach seiner Befreiung stärkte
er überaus nachhaltig das liberale jüdische Leben Englands und der USA.
Zwei Tage zuvor hatte sie gegenüber Bundesregierung und Parlament sehr
ernst die überfällige Re-Integration des liberalen Judentums in
Deutschland eingefordert, auch der Zentralrat der Juden war angesprochen.
Den Medien scheint all das entgangen zu sein. In der
Oper wurde Albert Meyer als Zentralrats-Mitglied und Berliner
Einheits-Gemeindevorsitzender begrüßt. Er vertiefte das Nachdenken über
Leo Baeck, erinnerte, wie die World Union dem jüdischen Leben in
Deutschland 1945 eine neue Basis schuf. Sein Wunsch an Ruth Cohen hieß
baldige Wiedereingliederung der Gemeinde in die Weltunion, das soll auch
offiziell besprochen worden sein. Während Meyer die Judenverfolgung bis
hin zur Shoa zusammenfasste, führte die norwegisch-jüdische Sängerin Bente
Kahan mit gewaltig wandlungsfähiger Stimme musikalisch durch ihre eigene
und die allgemeine europäisch-jüdische Ahnenreihe.
Ihr Motto für sechs Jahrhunderte jüdische Existenz
lautete schlicht "Home", und das in zehn Sprachen einschließlich Ladino
und Jiddisch. Sie sang von Jüdischkeit in Spanien, Polen, Russland,
Deutschland, Rumänien, Litauen, Prag, Auschwitz, Theresienstadt bis
Skandinavien, von Ein- und Auswanderung, Verfolgung, Glauben, Wunderrebben,
weisen Rabbinern, arm, reich, Liebe und Tod.
Erinnern festigt sich verschieden. Im Monat Mai gab es
die Berliner Befreiungs-Straßenfeste, Ausstellungen, Demonstrationen,
Kino, Musik, Theater und Vorträge zur bleiernen deutschen Geschichte - und
Peinlichkeiten ums neue Denkmal. Geteilt in eine unter- und oberirdische
Stätte ist nun die Kontemplation um den Freizeitspaß im Labyrinth
erweitert. Nach 60 Jahren könnte das neue breite Interesse zur Basis einer
erkennenden Vernunft werden, denke ich.
Die Jüdische
Korrespondenz als PDF
haGalil.com - 05-06-2005 |